Verständnis des „Politischen“, 27. Januar 2012, Teil 2: Kausalitäten
K A U S A L I T A E T E N
Franz Werfel Gedichte 1908 – 1945
S.63
Nächtliche Heimkehr
Wie das Wasser an der Kesselwand,
steigt die Einsamkeit in mir zum Rand
Das verzerrt durch irre Fremde strich,
giesst sich nun in mich zurück, mein Ich
Eingeschlafen noch und krampfgestaut
Wie ein Arm, löst sich mein Mensch und taut
Wie aus unerreichlichem Verbleib
Tritt Gott mir jetzt in Blut und Leib
Tue Ich das Richtige?
Chantal Mouffe:
Ich gehe bei meiner Untersuchung von der heutigen Unfähigkeit aus, die Probleme unserer Gesellschaften auf politische Art und Weise zu bestimmen. Ich meine damit, dass die politischen Fragen nicht nur technische Probleme sind, die von Experten zu lösen wären. Sie erfordern vielmehr immer Entscheidungen, d.h. die Wahl zwischen konfligierenden Alternativen. Ich werde zeigen, dass das Unvermögen, politisch zu denken, zu einem grossen Teil der ungefragten Hegemonie des Liberalismus geschuldet ist, und ein beträchtlicher Teil meiner Überlegungen wird sich mit den Auswirkungen liberaler Ideen in Humanwissenschaften und Politik beschäftigen.
Ich werde das zentrale Defizit des Liberalismus auf dem Gebiet des Politischen herausarbeiten: sein Negieren der Untilgbarkeit des Antagonismus. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, ist für die vorherrschende Tendenz im liberalen Denken ein rationalistischer und individualistischer Ansatz charakteristisch, der kollektive Identitäten nicht anerkennt. Diese Form von Liberalismus ist nicht in der Lage, die pluralistische Natur der Welt des Sozialen, samt den Konflikten, die zum Pluralismus gehören – Konflikten, für die es niemals eine rationale Lösung geben kann -, angemessen zu begreifen. CM
S.19
Es ist also kein Wunder, wenn das Politische zum blinden Fleck des Liberalismus wird. Es kann vom liberalen Rationalismus aus einem einfachen Grund nicht begriffen werden: Jeder konsistente Rationalismus muss die Irreduzibilität des Antagonismus negieren, der das unumgängliche Moment der Entscheidung zutage bringt.
Im strengen Sinne heisst das: Man muss auf einem Gebiet entscheiden, auf dem nicht entschieden werden kann – und dies offenbart die Grenze jedes rationalen Konsenses, den der Liberalismus erstrebt, dabei aber unüberbrückbare Antagonismen missachtet. Soweit liberales Denken am Individualismus und am Rationalismus hängt, ist seine Blindheit für das Politische in seiner antagonistischen Dimension daher keine bloss Kontingente, sondern eine konstitutive Leerstelle.
