— wegorythm

27 Juli 2012 Zusammenbruch und Wideraufbau: Harraga versus Kassel, eine Erörterung zur dOCUMENTA 13 vom 28. bis 30.6.2012

Bild oben: Inter City Hotel, Bahnhof Wilhelmshöhe Kassel

 

Im Foyer des Offenen Kanal’s wird zur dOCUMENTA 13, von dOCUMENTA-Hostess_Innen mit lila-mauve-creme farbenen, um den Hals gebundenen Schärpen, gegen Hinterlegung eines Personalausweises ein iPod ausgehändigt der einschliesslich einer freundlichen Bedienungsanleitung, zur Lautstärkeregelung per Fingerzeig, mit auf den virtuellen Pfad per touchscreen gegeben wird. Medial nunmehr gerüstet, wurde man anschliessend aufgefordert zu einer ‚Tour de Gare’, auf der linken Seite einer bereitgestellten Parkbank vor dem Eingang des Offenen Kanal’s Kassel[1]im Gebäude des ehemaligen Hauptbahnhof und der als fixer Ausgangspunkt einer „sightely perspective“, erst einmal bot Platz (ein-) zu nehmen.

Wer allerdings entgegen der in schmachtender Stimmlage versetzten, kanadischen Installationskünstler_In Janet Cardiff, cinematografisch perfekt umgesetzten Selbst-Inszenierung einer virtuellen Realiterkosmetik über iPod und deren  bedenklich unverfrorene Selbstbedienung oder vielmehr Übergriff auf die Erzählstrukturen namenloser Anderer, nicht namentlich anerkannter, (noch erwähnter) Author_Innen, dem betriebsamen Geschehen im Bahnhofsgebäude mehr Aufmerksamkeit zuwandte, konnte eine durch Ihre Schlichtheit bemerkenswerte, wenn gleichwohl unscheinbare Installation ausfindig machen, (der mir unbekannten Künstler_In Susan Philipsz), mit dem Titel „2 Minuten Gehweg auf dem Bahnsteig“.


[1] Der Offene Kanal Kassel wurde, (laut Angaben der projekteigenen homepage) im Jahr 1992 von der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien eingerichtet zum Zweck, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Region selbst Fernsehen machen können. Die notwendigen Voraussetzungen wie Technik und Betreuung werden in den ehemaligen Henkelsälen des KulturBahnhof, in Form von Kursen und Seminaren des Medienprojektzentrum’s Offener Kanal Kassel angeboten. Wobei es anzumerken gilt, dass es den Offenen Kanal landesweit auch in anderen Städten wie beispielsweise Frankfurt, Magdeburg genauso wie in Berlin gibt. Löblich hervorzuheben ist vielleicht mit Sendern vergleichbarer Grösse in der Schweizer Fernseh- und Medienlandschaft, wo sämtliche Lokalsender von Privatanbietern gestellt werden, es sich beim Offenen Kanal Kassel, hingegen um ein Projekt handelt, welches eine bürgernah-basisdemokratische Überzeugung mit (Ü)berregionalem Sendebewusstsein, sowie eine starke Einbindung der Jugend via eigens dazu bereitgestellten Sendegefässen ausstrahlt. Für diese Anliegen wird im Offenen Kanal mit Engagement geworben und (Ü)berzeugung eingetreten, wenn auch, als kleiner Wermutstropfen, man hüben wie drüben auch hier den Verdacht nicht gänzlich abzustreifen vermag, dass Migrationsspezifsche Anliegen und Themen auch hier eher in den Hintergrund treten oder als marginal erachtet werden.

Bild oben: Gruppe von Masterstudenten des Institut Kunst der fhnw Basel, dOCUMENTA 13 Kassel Juli 2012 

Wer sich auf Philipsz einliess, wankte zweifelsohne in einen Zustand der (An-) Spannung in Form einer (Ü)bersteigerten Erwartungshaltung, welche unmöglich mit den rationalen Erfahrungsweisen des Verstandes erschlossen werden konnte. Vielmehr fand man sich wieder in Angesicht der eigenen Ungewissheiten. Mit jedem Schritt entlang dieses verlassenen Bahnsteigs, mit dem gebrochenen Asphalt unter den Füssen, der Blick der hängen bleibt in einem Anflug von Nostalgie bezüglich des geschmiedeten, gewundenen Eisens im Jugendstil aus der Blütezeit der Industrialisierung und der aufkommenden Wehmut, wie die alten Lackschichten auf den Eisenträgern, welche wieder und wieder übermalt wurden und doch unter Hitze, Kälte und Witterung immer wieder aufbricht wie die Sehnsucht nach langen Reisen. Konventionen werden hier neu verhandelt, wie zum Beispiel über die Erfahrung des Sinnlichen über die Vermittlung durch den oder die Künstler_In gegenüber einem stets objektbezogen, oder als solchen durchdeklinierten Werkbegriffs. Wo beginnt der künstlerische Eingriff?

Der Titel… ist gewissermassen Handlungsanleitung, die Partitur und das Werk, das sich von jedem und jeder Betrachter_In aufs Neue (ein-) schreibt. Ist die Rahmung meines Blicks von der Künstler_In bewusst geleitet? Die nuancenreiche Beziehung zwischen einer bestehenden Absicht der Künstler_In und meiner Erinnerung, meiner idiosynkratischen Erfahrungswelt? Dieser Eingriff in die Wahrnehmung, ist das von der Künstler_In beabsichtigte, wird durch Verschiebungen in der Wahrnehmungshaltung, neue Begriffe zum Werk und zum Schaffen des oder der Künstler_In freigelegt.

 


Bild oben: Marsch der Sans-Papiers vom 21.Juni 2012 in Basel

Wobei Vergleiche von damals zu heute herbeizuziehen, in diesem Zusammenhang in mehrerer Hinsicht  als eher seltsam müssig denn als wahrscheinlich betrachtet werden dürfen – weil erstens, wohl niemand von uns je nachvollziehen kann, was damals die Deportierten innerlich gefühlt oder durchlebt haben – zugestanden (danke Regine:-) – und des weiteren ist da wo im Umgang mit der Aufarbeitung der (Nationalsozialistischen) Vergangenheit, die Klärung der Schuldfrage oftmals im Zentrum der Interessen steht, in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart, im Hier und Jetzt der künstlerisch geschaffenen Erfahrungswelten – die Ausgangslage vielmehr die, dass die kritische Betrachtungsweise selbst erfordert, dass die Kriterien unserer Erkenntnisweisen in Frage zu stellen sind, respektive zum Gegenstand unserer Untersuchungen werden.

 Bild oben: Tejal Shah, Mumbai, Between the Waves 2012, HauptKulturbahnhof Süd, Indiginous Women (Women of Color), enjoy their sexuality, balcony on high-modern high-rise building, stand in sharp contrast with waste and dump site’s choreographed performance backdrop, subtropic climate, heavy rains, grenade apple, vagina suffocation mask, white protuberance, phallic crayons, dOCUMENTA13 Kassel 2012

Exakt dieser Gegenstand meiner Untersuchungen, fand Ich diesmal in Form der Installation a place – near the buried canal, des kanadischen Künstlers Gareth Moore vor. Das Ereignishafte an Moore’s zeitlich-vergänglichen Auseinandersetzungen, die eigenwillig und spröd waren ohne je derb zu wirken, grub sich nachhaltig und vertieft in das Unterbewusste meiner Erkenntnisweisen ein. Moore’s Installation gebietet mir vermehrt wieder einen Moment Einhalt zu nehmen, dem atemlosen Hin- und Herswitchen, meine bewusste Aufmerksamkeit entgegenzusetzen, sie auf das zu richten, was um mich herum geschieht, um zu lauschen – anstatt nur mit einem Ohr hinzuhören – absichtslos gewiss, aber auch aus ganz eigenen Interessen, banalen (Ü)berlegungen, ein Stück weit Verwunderung womöglich – oder gar Staunen wieder  genau da zu erlernen, wo keinerlei Bewunderung mehr übrig blieb – sondern nur noch Konsumhaftes Verhalten.

 Bild oben: Installationsansicht Thea Djordjadze, Karlsaue Pavillon Nummer 50, dOCUMENTA 13 Kassel

Moore hat einen bloss hüftbreit abgesteckten Parcours, eine Art Saumpfad durch offenes Gelände gelegt, von einer Insel, einer Anäufnung von Kopien hellenistischer Skulpturen und Girlanden zum NickelandDime(Cent-)enniaryHonigKuchenPfennigMünzenOpferstock. Allerdings bevor man dieses Gelände betreten durfte, wurden an der – an die Umzäunungen einer Kuhweide erinnernden Pforte – die Besucher_Innen gebeten Handy und Kameras abzugeben. Mein erstes Geständnis somit folgt auf den Fuss, so habe Ich mich nur bedingt an die Auflage gehalten. Entgegen meiner vollmundigen Offenbarung gegenüber der zuvorkommenden jungen Dame an der Rezeption, trug Ich die ganze Zeit über verdeckt in meiner Tasche, ein eingeschaltetes Tonaufnahmegerät mit mir.

 

[audio:http://www.wegorythm.net/wp-content/uploads/2012/07/dOC13GarethMoorePfennigOpferstock.mp3]

Audio Track oben: Gareth Moore bei der Pflege und Bearbeitung Seines Münzweihealtars, Karlsaue Pavillon Nummer 120, dOCUMENTA 13 Kassel

Gareth Moore wählte für Seine von Ihm selbst zur Dauer der dOCUMENTA 13, ganzjährig über bewohnte Installation, eine etwas abgelegene Ecke der Karlsaue, welche üblicherweise zum Unterhalt der Parkanlage genutzt wird. Die in Ihrer aus Fertigbauelementen von roh zusammengezimmerten Pressholzplatten, an die stilistisch oft alpenländisch, folkloristisch-volkstümlich geprägten, architektonischen Albträume der verordneten pastoralen Geselligkeit von Schrebergartenhäuschensubotnikultur […] erinnernden, witterungsresistente Pavillons, welche als Standorte der verschiedenen Installationen in der Karlsaue dienten, hat Moore eigens für die dOCUMENTA in ein äusserlich etwas leicht verschroben, mit einem zudem noch mulmigen Gefühl anhaftendes – Refugium verwandelt.

Bild oben: Installationsansicht Nanni Balestrini, in den ehemals Henkelsälen mit Vorwort von Fabio (The ENd) Mauri, Kulturhauptbahnhof, dOCUMENTA 13 Kassel

Sich dessen wohl bewusst doch ungeachtet dem unermesslichen Aufwand an körperlicher Entbehrung bis an die Grenzen der eigenen psychischen wie physischen Belastbarkeit, hat sich Moore auf die Herausforderungen eingelassen, eine ansonsten mehr durch unebene bis unwegsam sumpfige Bodenbeschaffenheiten auffallende Parzelle von Waldboden und Buschgraslandschaft mit künstlerischen-kreativen Strategien und einem minimalen Aufwand an technischen Hilfsmitteln sich als Mikrokosmos produktiv zu machen.

Bild oben: Kherredine Tunis, 2010, en avant, en avancement du Revolution Arabe, oder siehe auch Wenzel’s blog auf wegorythm.net

Sehr oft unterbewertet jedoch in mühseliger Kleinarbeit zusammengesetzt, getragen, verschoben, umgedreht, entstellt, entlarvt, entdinglicht – entstehen  zwischen Vergänglich-kompostierbarem, bis zu einem gewissen Grad des fortgeschrittenen Zerfalls sich selbst überlassenen Objekten, wie Baumstrünken und Wurzeln, sowohl als auch Jenes, welches oftmals achtlos weggeworfenen und in Vergessenheit geratenen, wie rostende Metallteile, Bruchstücke von Hausabrisstrümmern, Blechdosen und vieles mehr, aus deren entropischen Zustand der Bedeutungslosigkeit oder der Verfehmung des Stofflichen, rekuperiert dieser Künstler Moore seine ganz alltäglichen Gebrauchsgegenstände wie beispielsweise die „Espresso“-kaffeetasse aus einer kleinen Konservendose der Marke ‚SAMBAL OELEK’ Harissa, der mit Lotzinn angehefteten Henkel aus einem gebogenen Stück Altmetall und haucht so der Materie wieder neuen Sinn ein.

Bild oben: Mao Zetong’s Cadmium Bäder

So wurde aus einem Stapel gebrauchter Schalungsbretter und anderem Bauholzabfall ein Kiosk mit einem Hochsitz dahinter der so eine Art Sonnendeck hatte das zum verweilen einlud. Die Innenausstattung der Hütte war karg, der jungen Künstler_In hinter dem Tresen bot die Behausung grade mal Schutz vor der brütenden Nachmittagssonne. Aus dem Halbdunkel des Inneren, von wo Ihre Stimme warm und zum flirten einladend zu vernehmen war, hielt Sie eine Auswahl an so essentiellen Gebrauchtwaren wie Räucherstäbchen oder beispielsweise die lukkulischen Genüsse gedörrter Aprikosen aus Afghanisten feil.

Bild oben: Könige Kleiner Länder anlässlich der diesjährigen Performance Veranstaltung Texte von Yolanda Bürgi und Simon Egger im Dreispitz Basel, Januar 2012, iPhoto: Philip Gasser

Dass Ich die Bedienung, deren freundlich-aufopfernde Performance ja eigentlich umsonst gewesen wäre, inklusive der weit unter dem üblichen Preis zu 25 Cent das Stück angebotenen Aprikosen, vor meiner Begleitung genüsslich dem Eigenverzehr zuführte, ohne eines Augenblicks der Besinnung, dass Ich meinem Gegenüber selbst ebenso etwas anbieten dürfte, währenddessen Ich mit kennerischer Miene auf der Aprikose rumkauend und ganz offenkundig nicht zu verheimlichendem Stolz über das so eben Geschehne, hingegen ebenso genüsslich, mich weiter munter palavernd und ausufernd über die „mathematische“ Inkompetenz der Performer_In aufhielt.


Bild oben ist Bild oben.

Obschon Ich nichts, aber auch gar nichts zu meiner eigenen Verteidigung vorzubringen habe, denn wie das zur Einleitung meines Artikels, bereits erwähnte „bonmot“ ja zur Genüge schon beweist, Unwissen war es mit Bestimmtheit nicht und Ich deshalb eigentlich nur ob meiner sprichwörtlichen Enttäuschung Ausdruck verleihen kann über mein bisweilen auffallend geringschätziges Verhalten meinem oder meinen Nächsten gegenüber.

[audio:http://www.wegorythm.net/wp-content/uploads/2012/07/dOC13_STE-001HuguenotHouse.mp3]

Audio File: Huguenot House, dOCUMENTA 13 Kassel, all rights reserved, General Eccentric Ltd. Products

Das wahrnehmbare der Schwingungen einer Symphonie, die sich in die Stille hinein der Abenddämmerung welche sich allmählich über das Gelände des Kulturbahnhofs legte, ganz unmerklich sowie urplötzlich durch eine Vielzahl von Lautsprechern, wie aus dem Nichts erklungen, auf den letzten Schritten am Ende des Bahnsteigs, welche von einem Komponisten Namens Pavel Haas stammten, der selber ebenfalls deportiert, (allerdings von Brno aus nach Theresienstadt, in einem ebensolchen Konvoi wie auch vom Kasseler Hauptbahnhof abgingen) und welcher 1944 in Ausschwitz ermordet wurde. Wie hätte Ich mich Verhalten als wie Pavel Haas 1943 im jüdischen Siedlungsgebiet Theresienstadt eine Komposition mit dem Titel „Studie für Streichorchester“ verfasste? Das verblüffende an den Leidensgeschichten der deportierten Juden, die so individuell sie auch sind, inmitten der Vernichtungmaschinerie die bis in Ihren grausamen Tod hinein, Ihr Schicksal mit bewundernswerter Fassung und tadellosen Umgangsformen getragen haben, ist das Eine. Wie wir allerdings auch wissen, ist, diese Geschichte jedoch vielleicht beim nächsten Mal aufzugreifen, die Mediatisierung des Mythologischen so weit gediehen, dass diese nicht mehr negiert werden darf noch kann. William Kentridge’s „The Refusal of Time“, dOCUMENTA13, Kassel 2012 ist ein eindrückliches, wie auch Spektakelreiches Beispiel dafür dass das Medium stets mitreflektiert werden sollte. Zudem möchte Ich erinnern an den 19. April dieses Jahres, welches für das laufende Kalenderjahr nach hebräischer Rechnung, den Yom (Tag) Shoah zum Ausdruck brachte. Ein alljährlich sich wiederholendes Ritual öffentlich-friedfertiger Kundgebung und Demonstration, wo Tausende Menschen zu einer bestimmten Tageszeit, Ihrer täglichen Routine für zwei Minuten, und sei es mitten im nachmittäglichen stockenden Verkehr auf den Autobahnringen Tel Aviv’s, Einhalt gebieten um derer Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft zu Gedenken aber auch denjenigen die sich gegen die Nazi’s gewehrt und Widerstand geleistet haben.

Ich kann mich auch irren, aber waren es wirklich nicht die bereits vorhandenen, altgedienten Megaphon ähnlichen Schalltrichter des Bahnvorstands, welche über allen Geleisen dräuend wie alte Krähen auf Stromkandelabern sitzend, die Künstler_In Susan Phillipsz eigens zu diesem Anlass wieder in Betrieb zu nehmen verstand?

 

 

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